„Meine Horrorvorstellung, dass die Menschen das Stoma eklig finden, wurde widerlegt“
In Deutschland sind rund 55.000 Kinder und Jugendliche von einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (CED) betroffen. Dabei sind die Darmwand oder die Darmschleimhaut dauerhaft entzündet, wodurch der Darm nachhaltig geschädigt und durchlässig werden kann. Die Ursachen sind medizinisch noch nicht vollständig erforscht. Vermutet werden erbliche Veranlagung, aber auch Infekte oder eine ungünstige Ernährung. Die Krankheit beginnt häufig schleichend, mit nicht eindeutigen Symptomen wie Bauchweh, Durchfall oder mangelndem Appetit. Typische CED-Krankheitsbilder sind Colitis ulcerosa und Morbus Crohn. Bei Morbus Crohn entstehen häufig Fisteln und Verengungen im Darm. Hier kann ein künstlicher Darmausgang notwendig werden, in der Fachsprache Stoma genannt.
Influencer Paolo Häckl, aka paolo.fenix, lebt seit einigen Jahren mit einem Stoma und setzt sich auf Instagram und TikTok offensiv und aufklärerisch mit der Krankheit auseinander. Die Entscheidung für das Stoma war für ihn ein weiter Weg – aber ein „überlebensrichtiger“.
Redaktion: Paolo, seit wann weißt du, dass du Morbus Crohn hast und wie weit war der Weg zur Diagnose?
Paolo: Seit Ende 2012, da war ich 22. Die erste Diagnose war Colitis Ulcerosa, das ist ja quasi der kleine Cousin von Morbus Crohn und der Weg dahin war schneller als mir lieb war. Ich hatte von einem Tag zum anderen heftige Magen-Darm-Probleme, so wie man es von einer Magen-Darm-Grippe kennt. Der Unterschied war, dass es einfach nicht mehr wegging. Nach zwei Monaten Dauerdurchfall und Krämpfen hat mich mein Arzt zur Darmspiegelung geschickt. Anhand der Gewebeproben und des Entzündungsbilds im Darm war dann schnell klar, dass es eine Colitis oder Morbus Crohn sein muss.
Redaktion: Wie hast du dich zu der Zeit gefühlt?
Paolo: Ich war eigentlich vom weniger Schlimmen ausgegangen. Natürlich habe ich nach den Symptomen gegoogelt und bin dabei auch auf Morbus Crohn gestoßen, hab das aber erstmal ignoriert. Nach der Diagnose hat eine mentale Blockade eingesetzt. Auch wenn mir sofort gesagt worden ist, dass das jetzt für immer zu meinem Leben gehört, ist das nicht in mein Bewusstsein gedrungen. Es war wie: „Ich höre zwar, was die Ärzte mir sagen und ich nehme auch, was sie mir geben – aber da muss irgendwo ein Fehler sein.“ Ich habe das komplett verdrängt.
Redaktion: Wie hast du gelernt, die Krankheit zu akzeptieren?
Paolo: Ich musste erst einmal komplett abstürzen – physisch und auch psychisch. Ich wollte es zunächst nicht akzeptieren, aber die Realität hat mich dazu gezwungen. Ich war jeden zweiten Monat im Krankenhaus, hatte Fisteln, musste Eiseninfusionen bekommen. Und ich habe unglaublich stark abgebaut: Bei 1,80 m wog ich nur noch 52 kg und mein Eisenwert war im Keller. Ich konnte gar nicht mehr Treppen steigen, ohne dass mein Puls auf 180 war. Eigentlich war kein selbständiges Leben mehr möglich. Trotzdem habe ich immer noch gehofft, dass es von selbst besser wird – die Erkenntnis, dass das nicht passieren wird, war sehr schmerzhaft. Irgendwann ist mir also klar geworden: Wenn ich jetzt nicht dafür kämpfe, hier wieder rauszukommen, dann ist es vorbei. Ich habe den kalten Stein unter mir gefühlt und wusste, der nächste Schritt wäre der unter die Erde. Und genau da hat sich mein Mindset geändert.
Redaktion: Hast du dir dann auch psychologische Hilfe geholt?
Paolo: Ja, das erste Mal bereits kurz vor dem „Abgrund“. Aber das war eher von meinem Umfeld, also von außen aufgezwungen. Deshalb habe ich mich innerlich nicht darauf eingelassen. Aber als sich mein Mindset geändert hatte – gegen 2020 – merkte ich, dass ich so viele Emotionen aus den letzten Jahren noch nicht verarbeitet hatte. Da habe ich mir aktiv psychotherapeutische Betreuung gesucht und mich fünf Wochen lang einweisen lassen. Das hat mir enorm geholfen. Ich kann nur jedem empfehlen, die Demut zu haben und sich einzugestehen: Ganz allein schaffe ich das nicht. Und es ist auch gar keine Schande – auch wenn es in manchen Familien leider noch schambehaftet ist. Das war eine der besten Sachen, die ich machen konnte: mir Hilfe zu holen.
Redaktion: Die Entscheidung für das Stoma – fiel sie dir leicht oder schwer?
Paolo: Das erste Mal vor die Wahl gestellt war ich direkt bei der Diagnose. Da hieß es schon: „Wenn wir den Dickdarm rausnehmen, ist der Stressmacher erst weg und damit kann man dann gut leben.“ Aber ich fand die Logik schräg – wenn ich Kopfschmerzen habe, hacke ich mir doch auch nicht den Kopf ab. Da musste es doch noch was anderes geben. Hinzu kommt: Ich war ein sehr eitler und fast schon arroganter Mensch, mit vielen Muskeln, hab Fitness gemacht und in einer Band gespielt. Und auch wenn ich gar nicht mehr gut aussah zu dem Zeitpunkt, habe ich mich noch an diesem Image festgeklammert. Der Gedanke ans Stoma hat mein Selbstbild komplett zerstört, er hat aus der Skulptur in meinem Kopf ein Monster gemacht. Sieben Jahre lang habe ich mich davor gedrückt, aber irgendwann ging es mir so schlecht, da ging es nur noch ums Überleben und innerhalb weniger Stunden war ich dann im OP. Diese Klatsche hat mich wachgerüttelt – und dann fiel es mir auch leicht.
Redaktion: Offensichtlich hat dich das Stoma deinem Körperbild wieder sehr nahegebracht. Was hat es dir sonst an Lebensqualität zurückgegeben?
Paolo: Es hat mir überhaupt wieder ein Leben ermöglicht. Ich hatte eine sehr schwere Form mit 40-mal Durchfall am Tag, ein permanentes Auf-dem-Klo-sein, mit Blutungen und Krämpfen. Immer chronisch erschöpft durch den Eisen- und Schlafmangel. Mein Leben bestand nur noch aus Bett – Klo – Küche – Krankenhaus. Das Stoma hat mir eine komplett neue alte Welt geöffnet: mit Freunden, Vollzeitarbeit, Festivalbesuchen, Urlauben … Manchmal ist der Gedanke schon da, dass ich mir viel Leid hätte ersparen können, hätte ich mich ein paar Jahre früher für das Stoma entschieden.
In der medikamentösen Therapie zum Einsatz kommen Entzündungshemmer, Kortisonpräparate oder Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken, sowie immer häufiger auch Biologika. Sie sollen für ein Eindämmen der Entzündungen sorgen und die symptomfreien Phasen verlängern. Mehr über Morbus Crohn und die Therapiemöglichkeiten erfährst du hier.
Redaktion: Fühlst du dich immer chronisch krank oder vergisst du das im Alltag auch mal?
Paolo: Der Default-Zustand ist, dass ich es vergesse. Aber natürlich habe ich immer mal wieder Schmerzen oder Krämpfe. Und durch das Stoma muss ich natürlich immer im Voraus planen, etwa, um unterwegs genügend Versorgungsmaterial dabeizuhaben. Das erinnert mich im Alltag doch schon immer wieder daran, selbst wenn ich in dem Moment vielleicht gerade super viel Spaß habe. Das macht mir zwangsläufig immer wieder bewusst, dass Gesundheit jetzt in meinem Leben ein Thema ist, was mich zu interessieren hat.
Redaktion: Wann hast du beschlossen, deine Erkrankung in Social so offen zu spielen?
Paolo: Ein Freund hatte ein Video von einem Stoma-Patienten gesehen und festgestellt, wie viel Interesse an dem Thema besteht. Erst wollte ich nicht, ich hatte mich immer noch für meine Krankheit geschämt und große Probleme damit, anderen zu erzählen, was ich habe. Dann habe ich aber – eigentlich als Herausforderung an mich selbst – mein erstes Video dazu gedreht, wo man auch merkt, dass ich mich herumdrücke und am Ende nur ganz schnell und verschämt das Shirt hebe, um das Stoma zu zeigen. Meine Horrorvorstellungen, dass die Menschen das eklig finden, wurden aber widerlegt. Mir ist sehr viel Verständnis und Empathie entgegengekommen. Das hat mir dabei geholfen, das selbst lockerer zu sehen. Und je mehr ich darüber geredet habe, desto selbstverständlicher wurde es auch für mich. Mittlerweile sehe ich das Stoma so, wie ich meinen Ellbogen betrachte – es ist halt ein Teil von mir.
Redaktion: Hat dir das Thema auf deinen Accounts einen Push bei den Followerzahlen gegeben?
Paolo: Ja, schon, zumindest auf TikTok. Dort hatte ich mit Animé-Content und Comedy rund 120K Follower aufgebaut und jetzt bin ich bei ca. 300K. Das kommt nicht nur über Leute, die selbst ein Stoma haben, sondern auch über andere, die das Thema interessiert: Angehörige oder Pfleger zum Beispiel, die Stoma-Patienten betreuen.
Redaktion: Wie gehst du mit negativen Reaktionen auf deine Postings zum Thema Stoma um?
Paolo: Ich kann mittlerweile gut herausfiltern, ob ein Kommentar dazu gedacht ist, mich zu verletzen oder ob es wirklich Neugierde ist. Was immer wieder mal kommt, ist: „Bist du nicht der Typ mit dem Kackbeutel?“. Ja, so what: Ist ein Beutel, ist Kacke drin. Das trifft mich nicht. Was mich aber schon ein bisschen kränkt, ist wenn Leute anzweifeln, dass ich wirklich ein Stoma habe – weil sie einfach nicht checken, dass manche Aufnahmen spiegelverkehrt sind und der Beutel dann natürlich auch mal auf der „falschen“ Seite hängt. Das muss ich denen tatsächlich immer wieder erklären. Aber irgendwann kommt auch der Punkt, wo du dich gar nicht mehr selbst verteidigen musst, sondern wo deine Community das für dich übernimmt.
Redaktion: Und gab es auch eine besonders emotionale Reaktion, die dich berührt hat?
Paolo: Klar, freue ich mich, wenn mir jemand schreibt, dass ich ihm die Angst vor dem Stoma genommen habe. Aber ich muss auch eine gewisse emotionale Distanz bewahren, denn ich bekomme ja auch viele leidvolle Geschichten von meinen Usern mit.
Redaktion: Was ist deine Botschaft an andere junge Leute mit chronisch entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn?
Paolo: Radikale Akzeptanz auszuüben und der Realität ins Auge zu blicken. Und nicht zu viel Zeit mit der Hoffnung darauf zu vergeuden, dass das wieder weggeht. Schaut, was eure Möglichkeiten sind, was ihr aus der Situation machen könnt, die so ist, wie sie ist. Und ganz wichtig: Die Ängste, die viele Stoma-Patienten vor Dating, Partnerschaft und Intimität haben, sind zu 95 % nur im eigenen Kopf. Mein Learning ist: Den meisten ist das völlig egal. Gut ist aber, schon vor dem ersten Date das Stoma anzusprechen. Dann kann jeder drüber nachdenken und entscheiden, ob oder wie es weitergeht. Das ist völlig okay.