Mein Name ist Leo. Ich bin 19 Jahre alt und gerade für mein Studium von einem kleinen Ort in Süddeutschland nach Hamburg gezogen. Möglichst weit weg. Ich brauche räumlichen Abstand zu meinen Eltern. Denn mein Vater ist Alkoholiker. Ich habe lange gebraucht, bis ich diesen Satz aussprechen konnte, ohne mich zu schämen. Inzwischen habe ich gelernt, damit zu leben.
Ich weiß nicht, seit wann mein Vater Alkoholiker ist. Wo verläuft die Grenze zwischen dem Feierabendbier, wie er es früher nannte, und der Sucht? Dem Gefühl, den Abend ohne Alkohol nicht überstehen zu können? Ich erinnere mich daran, dass er nachmittags häufig auf die Uhr sah und es nicht mochte, wenn er mich noch spät vom Fußballtraining abholen musste. Erst Jahre später habe ich begriffen, dass er nervös war, weil er die erste Flasche grundsätzlich nicht vor 18 Uhr öffnete und dann zuhause sein wollte. Mit solchen Tricks ist es ihm jahrelang gelungen, sich selbst vorzumachen, er habe das Trinken im Griff. Meine Mutter war die Erste, die ihm sagte, dass er Hilfe brauchte. Er wollte davon nichts hören.
Mein Vater hat mich nicht angeschrien, wenn er betrunken war, und schon gar nicht geschlagen, wie man es so oft in Filmen sieht. Er war einfach nur lustig, gut drauf. Was war daran so schlimm? So dachte ich als Kind, wenn meine Eltern sich mal wieder stritten. Ich war sauer auf meine Mutter, weil sie ihn ständig anmachte und ihm das Trinken verbieten wollte – bis sie mir ins Gesicht schrie: „Ja, begreifst du’s denn nicht?! Er säuft sich tot!“ Da war ich zwölf und fing an, Bierflaschen vor ihm zu verstecken.
Zwei Jahre später drehte sich bei uns zuhause alles nur noch um den Alkohol. Mein Vater war von Bier auf Wein umgestiegen. Der knallte besser. Nach fast 15 Jahren als Ingenieur bei derselben Firma hatte er seinen Job verloren, weil ihm ständig Fehler passierten. Also lag er den ganzen Tag auf der Couch und soff, während meine Mutter als selbstständige Steuerberaterin rund um die Uhr arbeitete, damit sie den Abtrag fürs Haus finanzieren konnte. Wie schlimm es tagsüber bei uns war, bekam sie gar nicht mit.
Mein Bruder Dennis ist drei Jahre älter als ich. Wir gingen beide nicht mehr zum Fußball, trafen uns kaum noch mit Freunden, wurden schlechter in der Schule. Stattdessen wechselten wir uns damit ab, meinen Vater zu beschäftigen, damit er nicht ganz so viel trank. Wir schauten zusammen fern, fragten ihn um Hilfe bei unseren Hausaufgaben, und einmal fing ich einfach an zu schreien, als ich Glas in der Küche klirren hörte. Mir fiel auf die Schnelle nichts anderes ein, um ihn von der Flasche wegzulocken. Ich behauptete, ich habe so furchtbare Krämpfe. Er fuhr mit mir ins Krankenhaus, wo die Untersuchungen natürlich nichts ergaben – aber er blieb bis zum Abend nüchtern.
Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr, wie wir das durchgehalten haben. Dennis und ich hatten das Gefühl, dass es unsere Verantwortung war, ob mein Vater trank oder nicht. Deswegen gaben wir uns auch die Schuld, als wir nachts von den Sirenen eines Rettungswagens wach wurden. Meine Mutter hatte meinen Vater nicht mehr wachbekommen und den Notarzt verständigt. Es ging noch mal gut, aber vier Wochen später zogen wir aus. Dieses Bild werde ich nie vergessen: Mein Vater steht weinend im Türrahmen. Meine Mutter umarmt ihn, er will sie festhalten, aber sie macht sich los. Sie schluchzt, als sie sich ans Steuer setzt und sagt zu uns: „Wenn er aufhört, kehren wir zurück.“ Sie sagt diesen Satz bestimmt zehnmal hintereinander.
Heute leben die beiden wieder zusammen. Mein Vater ist seit mittlerweile zwei Jahren trocken. Eine Zeitlang wechselten sich Entziehungskuren und Rückfälle ab. Jetzt macht er einen stabilen Eindruck. Er geht an mehreren Abenden in der Woche zu den anonymen Alkoholikern und arbeitet in Teilzeit als Coach für Berufsanfänger. Aber jeder Tag ist ein Kampf für ihn. Bei den kleinsten Problemen fühlt er etwas, was er Suchtdruck nennt. Er telefoniert dann mit Bekannten von den anonymen Alkoholikern, manchmal stundenlang, bis es ihm besser geht.
Das weiß ich von meiner Mutter. Mein Vater will mit mir nicht darüber reden. Dabei würde ich gerne verstehen, wie alles gekommen ist. Warum hat er überhaupt angefangen zu trinken? War er unglücklich, oder ist es einfach langsam immer mehr geworden?
Seit einem Jahr mache ich selbst eine Therapie, um die Erlebnisse zu verarbeiten. Ich erzähle meinem Arzt vor allem, was alles passiert ist und wie ich es empfunden habe. Nach und nach habe ich dabei begriffen, dass Dennis und ich keine Schuld hatten und mein Vater die Verantwortung für sein Leben selbst trägt. Eine Zeitlang war ich wahnsinnig sauer, dass ihm der Alkohol wichtiger war als seine Familie, aber auch das ist vorbei. Er hat es ja nicht mit Absicht getan. Ich weiß, dass er uns lieb hat, und ich hoffe sehr, dass es ihm gelingt, trocken zu bleiben. Alkoholiker wird er immer sein.
Ein Gutes hatte die ganze Sache: Mein Bruder und ich stehen uns wahnsinnig nahe. Er lebt in Berlin, aber wir sprechen uns mehrmals in der Woche, ihm erzähle ich wirklich alles. Außerdem habe ich das Gefühl, die Erfahrungen zuhause haben uns stark gemacht. Eine Klausur verhauen? Ja, und? Was ist das schon im Vergleich dazu, die Kotze des eigenen Vaters vom Boden aufzuwischen?
Dennis rührt übrigens gar keinen Alkohol an. Ich trinke höchstens mal ein Bier beim Fußballgucken. Sehr selten. Betrunken war ich noch nie. Ich hätte viel zu viel Angst davor, irgendwann mal die Kontrolle zu verlieren.
Beratungsangebot
NACOA Deutschland kümmert sich um Kinder und Jugendliche, deren Eltern Alkoholiker sind oder Probleme mit einer anderen Sucht haben. Auf der Homepage findet ihr regionale Kontaktadressen und einen regelmäßigen Gruppen-Chat. Ihr könnte euch auch per Telefon oder Mail an die Mitarbeiter wenden, wenn ihr Unterstützung braucht oder Fragen habt.